Mentale Stärke: Wie man als Hitzkopf tolle Matches spielt

Marco Kühn
von Marco Kühn

Man wird wahrscheinlich nie vergessen, wie Andy in Richtung seiner Box raunzt.

Wie er sie motiviert ihn zu motivieren. Man wird ebenso nie vergessen, wie er mit der vielleicht schönsten Aufschlagbewegung überhaupt nicht nur Rafael Nadal zu einem besseren Aufschlag inspiriert hat. Man wird nie vergessen, wie er seinen Frust und seine Wut am Schopf gepackt und in Mut verwandelt hat.

Tennis verliert nicht nur einen taktisch perfekt ausgebildeten Spieler, der spielerisch oft vielleicht zu passiv, dafür emotional aber immer aggressiv zu Werke ging. Tennis wird einen Charakter verlieren, der immer echt war. Auf und neben dem Platz.

Aber er wird, da bin ich sicher, mehrere Generationen an jungen Spielern motivieren für ihre Ziele und Träume zu kämpfen.

Ich kann mich noch sehr gut an ein Match von Andy Murray gegen den äußerst talentierten Adrian Mannarino erinnern. Murray verlor die ersten beiden Sätze sang- und klanglos. In seiner einzigartigen Manier verzog er sein Gesicht, als wäre es aus Knete. Seinen Mund öffnete er immer weit, wenn er am liebsten aus Frust dem Schiedsrichter den Kopf abgebissen hätte.

In diesem Match gegen Mannarino spulte Murray sein volles Programm ab:

  • beleidigen der eigenen Box
  • Frustschreie
  • Mund öffnen
  • Selbstgespräche, die für Zuschauer unter 16 Jahren nicht geeignet waren

Das Lehrbuch der Mentalität hätte verraten:

„Dieser Spieler bringt sich selbst komplett aus dem Rhythmus. Er hat seine Nerven nicht unter Kontrolle und verliert komplett den Faden, den er auch nicht mehr wiederfinden wird.“

Was passierte?

Andy drehte das Match und gewann am Ende souverän.

Auch mir wurde früher immer geraten nicht auszuflippen und die Ruhe zu bewahren. Dass ich mich nur selbst aus dem Konzept bringe, wenn ich mal den Tennisschläger schmeiße oder die halbe Welt in einem einzigen Schrei verfluche.

Doch so einfach ist das nicht.

Wir alle fiebern so sehr mit unserem Lieblingsspielern mit, weil wir auch mit ihren Charakteren mitfiebern und die Emotionen unserer Lieblingsspieler vor dem Bildschirm leben.

Ein Urschrei – mentale Stärke

Wir können uns im wahrsten Sinne des Wortes mit unserem Lieblingsspieler identifizieren. Und jeder Charakter geht mit seinen Emotionen unterschiedlich um.

Andy Murray war und ist ein Meister darin seinen Frust, seine Wut sofort rauszulassen, um anschließend die besten Lösungen für seine auf dem Platz entstandenden Probleme zu finden. Wenn andere Charaktere sich in ihren Emotionen komplett verlieren würden, dann braucht Andy diesen weit geöffneten Mund, diese Monologe mit seiner Box, um wieder klar denken zu können.

Rafael Nadal und Novak Djokovic stauen hingegen erst den Frust an, um ihn dann in einem Urschrei oder einem Erdbeben auslösenden „Vamos!“ rauszulassen.

Murray aber tat das Gegenteil von dem, was jeder Trainer lehrt. Er haderte ständig und kommentierte teilweise jeden Ballwechsel. Sein Charakter ist ehrlich und direkt, geradeaus. Er sagt, was er denkt und fühlt. Und seinem Charakter entsprechend ging er mit seinen Emotionen und Stimmungen auf dem Platz um.

Andy Murray, ein gerissener Typ

Dieses Verwandeln von Wut in Mut ist eine mentale Technik. Andy Murray nutzt seine Wut. Er lässt sich nicht von ihr regieren. So, wie er in Pressekonferenzen immer eindeutig zu unterschiedlichsten Themen klar Stellung bezieht, genau so handelte er auf dem Platz. Ein Tennismatch ist eine Aneinanderreihung von Problemen, die bestmöglich gelöst werden wollen. 

Diese Probleme lassen sich nicht immer perfekt lösen. Weil jeder Spieler immer umgehend mit seinen Entscheidungen für diese Probleme konfrontiert wird, entstehen aufgrund der nicht immer guten Entscheidungen starke Emotionen.

Wie man mit diesen Emotionen dann umgeht, entscheidet immer der individuelle Charakter des Spielers. Hätte man Andy gesagt er solle doch mal weniger Selbstgespräche führen und den Mund mal zu lassen, dann hätte dies bei ihm für den kompletten Zusammenbruch gesorgt. Er hätte Matches wie gegen Adrian Mannarino niemals drehen können, weil er komplett gegen seinen Charakter gehandelt hätte.

Andy war ein gerissener Spieler, der seine Gegner gern erstmal kommen ließ, um dann aus dem Hinterhalt dank guter Beinarbeit zurückzuschlagen. Er nahm liebend gern das Tempo des gegnerischen Schlages, um dieses für seine eigenen Schläge zu nutzen.

Dieses Muster aus:

  • zunächst kommen lassen
  • das Gekommene für sich nutzen

nutzte er für seine mentale Stärke. Er ließ den Frust und die Wut kommen, jonglierte ein wenig mit ihr, um dadurch den für sein Spiel so wichtigen Mut zu fassen.

Diese Umsetzung von mentaler Stärke zeigt zugleich auch den Unterschied zwischen einem Spieler aus den „Big Four“ und dem Rest. Es ist eine große Kunst seine Emotionen so zu nutzen, dass sie dem eigenen Spiel dienlich sind. Es gibt unzählige Talente und großartige Tennisspieler, die genau in dieser Disziplin versagen.

Andy Murray war ein grandioses Beispiel dafür, wie man seinen Charakter und seine Spielweise miteinander verbinden kann, so dass ein mental starker Spieler auf dem Platz stand. Diese Mentalität brachte ihm eine ganze Menge an Vorteilen. Er konnte sich immer auf sich selbst verlassen. er wusste, dass selbst wenn er mal die Fassung verlor, er sich umgehend wieder fangen würde. Andere Spieler haben genau vor diesen Situationen Angst. Sie fühlen sich aufgrund ihrer Emotionen hilflos und wissen nicht, wie sich selbst aus diesen dunklen Phasen befreien können.

Diese Probleme hatte Andy Murray nie. Obwohl es manchmal für seine Gegner und den Zuschauer den Anschein machte, dass er jeden Moment explodieren würde. Diese, ich nenne es mal ganz schmeichelhaft Präsenz, hat direkten Einfluss auf das Denken des Gegners. Denn der weiß überhaupt nicht mehr, woran er ist.

Flippt dieser Andy gleich aus und spielt keinen Ball mehr rein? Raunzt er absichtlich so Richtung Box? Hat er sich und sein Spiel noch unter Kontrolle?

Der Gegner ist im Kopf beschäftigt. Und das, obwohl der Gegner, wie im Falle von Adrian Mannarino, ganz klar führt. Auch das ist mentale Stärke.

Was du von Andy Murray lernen kannst

Finde heraus, welcher Charakter du auf dem Platz bist.

Lässt du deinen Frust sofort raus? Oder bleibst du eher geduldig und wartest, bis es irgendwann aus dir heraus platzt?

Du kannst nur schwer ein Schema für dich übernehmen und dich vielleicht so verhalten, wie es dein Vorbild tut. Wenn du ein exzentrischer Typ bist, der nach einem leichten Fehler mit der Vorhand direkt flucht, dann wirst du nur schwer die Ruhe und Gelassenheit von Roger Federer übernehmen können.

Du musst für dich individuell Techniken erlernen, die es dir ermöglichen mit den immer schwankenden Emotionen während deiner Matches bestmöglich umzugehen. Deswegen empfehle ich, je nach Charakter, ruhig mal die Sau rauszulassen. Den Anfang macht eine ganz einfache Analyse deiner bisherigen Verhaltensweisen auf dem Platz.

Frage dich, ob du oft den Faden in einem Match verlierst und wie oft du diesen wiederfindest. Wenn du für dich festgestellt hast, dass du den Faden nur sehr schwer zurückerobern kannst, dann weißt du, was für dich nicht funktioniert: Dein derzeitiger Umgang mit deinen Emotionen.

Eine beliebte Taktik ist es einfach das Gegenteil von dem zu tun, was du derzeit tust.

Andy Murray tat auch das Gegenteil von dem, was viele Trainer raten. Aber er hatte mit seiner ganz individuellen mentalen Taktik großen Erfolg.

Wenn du zu ruhig auf dem Platz bist und Probleme hast deine Emotionen überhaupt mal laufen zu lassen, dann beginne doch mal mit den folgenden, simpel umzusetzenden Elementen:

  • balle die Faust nach einem guten Punkt (vollkommen egal, wie es im Satz steht)
  • rufe laut „Come on!“
  • rufe laut „Verdammter Mist!“
  • beginne laute Selbstgespräche zu führen und lasse mal ordentlich Dampf ab

Auch nonverbal kannst du kommunizieren. Stelle dich vor deinem ersten Aufschlag an die Grundlinie, hebe dein Kinn an und suche den Blickkontakt zu deinem Gegner. Halte diesen Blickkontakt.

Stehe als erster Spieler beim Seitenwechsel von der Bank auf und gehe mit langsamen, großen Schritten, entspannt und mit dem Blick nach vorn gerichtet Richtung Grundlinie.

Tänzle vor dem Return. Aber bitte genau dann, wenn dein Gegner vor seinem Aufschlag zu dir rüber schaut. Er soll sehen, dass du bereit bist dein bestes Tennis zu spielen.

Wie individuell die Wege zu mentaler Stärke sind hast du am Beispiel von Andy Murray gesehen. Finde jetzt deinen Weg, um für dich die bestmöglichen Lösungen auf dem Platz zu finden.

Auch wenn mal der Schläger dabei fliegt 😉

Marco Kühn
Marco Kühn
Marco ist an der Grundlinie groß geworden und ehemaliger Jugendranglistenspieler. Heute hilft er mit seinem Blog Clubspielern besser Tennis zu spielen. Er schrieb bereits für tennisnet.com, tennisMAGAZIN, Tennis-Point und den Focus.

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