Wolfgang Thiem: Warum man als Tennisspieler geboren sein sollte (und welche Fähigkeiten du verbessern kannst)

Marco Kühn
von Marco Kühn

"Ball anschauen. Früh genug ausholen. Beinarbeit. Etwas in die Knie gehen. Über die Schulter ausschwingen."

Die Vorhand kommt.

Der Ball trifft mittig die Scheibe. Zu weit unten wäre 'Netz' gewesen. Zu weit oben 'Out'. Der weiße Rahmen der Terrassentür bleibt verschont. Auch die große Pflanze neben der Tür zählt noch alle Blätter. Bei der Ausholbewegung, der Schleife, stand fast der Essenstisch im Wege.

Aber eben nur fast.

Die drucklose, bunte Filzkugel fliegt von der Glasscheibe zurück. Sie besitzt nicht mehr ganz so viel Rotation, als sie vor den kleinen Füßen aufspringt. Aber sie wird schneller.

Der Nachbar ist bereits genervt. Seine Gedanken sind so laut, dass man sie beinahe hören kann:

"Es ist Sonntag und dieser kleine Nachbarsjunge drischt trotz Nieselregen voll konzentriert einen Tennisball stundenlang gegen die Terrassentür. Was soll aus dem bloß werden?!"

Plopp. Tick. Plopp. Tick. Plopp.

Der Junge konzentriert sich weiter auf die Ausführung seiner Schläge:

"Side-Step zurück zur Mitte. Schlägerfläche unter den Ball bringen. Gewicht auf das vordere Bein verlagern. Von unten nach oben schlagen. Stehenbleiben beim Schlag."

Viel Zeit zum durchschnaufen bleibt ihm nicht. Die Terrassentür macht keinen einzigen Unforced Error.

Was der Nachbar nicht weiß:

Der kleine Bub ist in Gedanken gerade auf dem Centre Court von Paris. Er spielt die Vorhand nach, die er gestern mit großen Augen im Fernsehen bei seinem Idol analysiert hat. Jede einzelne Phase der Bewegung hat er sich detailliert eingeprägt. Er ist gerade dabei seinen Plan umzusetzen, damit er seine Vorhand mit noch mehr Topspin spielen kann. Mit diesem Gedanken ist der Junge heute morgen wach geworden. Er muss diesen Plan umsetzen. Sonst kann er am Abend nicht schlafen.

Heute passt die Vorhand-Topspin.

Dominic Thiem hat ebenso wie sein Bruder Moritz als Kind Stunden damit verbracht einen Tennisball gegen eine Terrassentür zu spielen. Wer Tennis im Blut hat, der benötigt nur wenig Motivation, um auf jede erdenkliche Weise das Racket zu schwingen. Dann wird eine freie Wand im Wohnzimmer während eines Umzugs blitzschnell zur Trainingsanlage.

Wolfgang Thiem hat den Prozess von der Terrassentür bis zur Weltspitze miterlebt und aktiv begleitet. Aber auch seine Erfahrungen mit anderen Spielern und ihren individuellen Charakteren machen ihn zu einem absoluten Fachmann, der aus der Praxis berichten kann. In der Box ist er der ruhige Pol. In der Südstadt arbeitet er mit talentierten Spielern an deren Technik und gibt sein Know-How weiter.

Wolfgang und die gesamte Familie Thiem spielt nicht nur Tennis. Sie lebt Tennis. Und das seit den Zeiten, als die Terrassentür noch ein unbezwingbarer Gegner für die Dominic und Moritz war.

Zwischen der zweiten und dritten Runde bei den Australian Open nahm sich Wolfgang Zeit und beantwortete meine Fragen. Es geht um Matchpläne, das Analysieren des Gegners und um entscheidende mentale Eigenschaften. Wenn du erfahren willst, welche Bereiche Wolfgang Thiem im mentalen Bereich für entscheidend hält, dann lies unbedingt weiter.

Bevor wir uns zum Ende dieses Artikels um die Jugend kümmern und überlegen, welchen Einfluss Social Media auf die Konzentrationsfähigkeit junger Spieler hat, starten wir weit vor dem ersten Ballwechsel eines Matches.

Wolfgang Thiem über die Vorbereitung auf ein Match

Wie sieht ein Matchplan aus? Benötigt Dominic überhaupt einen? Oder reicht es auf gut Glück den Court zu betreten?

Wolfgang Thiem über die Vorbereitung auf ein Match:

"Ganz klar: Es werden die Gegner studiert. Es gibt YouTube Videos und es gibt Statistiken. Ich bin ein großer Freund von Statistiken. Beim Turnier in Barcelona beispielsweise war ein Computer, an dem man sich jeden Punkt anschauen konnte.

Dort konnte man die Position des Spielers, die Treffpunkthöhe, die genaue Position beim Return und die Platzierungen jedes einzelnen Schlages sehen. Man kann aus diesen Statistiken unglaublich viel rauslesen.

Auf Grundlage dieser Statistiken stellt man dann einen Matchplan zusammen. Das Wichtigste ist natürlich, dass man den eigenen Spieler dabei nicht vergisst. Es gibt Spieler, die beschäftigen sich lieber mit dem Gegner. Manche beschäftigen sich mit ihrem eigenen Spiel.

Dominic ist jemand, der sich lieber mit seinem eigenen Spiel beschäftigt und nicht so sehr mit dem Gegner, weil er eben die entsprechenden Waffen hat, um das Spiel selbst zu bestimmen."

Die Statistiken sind die Analyse des Gegners. Sie lassen einen Blick in den Kopf des Gegners zu. Muster und wiederkehrende Verhaltensweisen können entdeckt werden.

Lässt sich beispielsweise erkennen, dass ein Spieler von auffällig weit hinten returniert, so lassen sich die eigenen Aufschlagvariationen besser planen.

Hier wäre zum Beispiel ein etwas kürzer gespielter Aufschlag mit Slice nach außen eine Variation.

Was Dominic betrifft kann man nur im Chor mit dem Kopf nicken. Er würde sich selbst Beinchen stellen, wenn er nicht seine mächtigen Grundschläge einsetzen, sondern sich im taktischen Geplänkel verlieren würde.

Was kannst du für dein Tennis mitnehmen?

  • Beobachte deinen Kontrahenten und schaue, bei welchen Schlägen und Bewegungen er sich sehr sicher fühlt - und bei welchen nicht
  • Vergiss nicht im Match deine individuellen Stärken einzusetzen. Vertraue diesen mehr und scheue dich nicht diese gegen die Schwächen deines Gegners einzusetzen

Lass uns zu Dennis Novak kommen. Er hat sich im Ranking nach oben gearbeitet. Was war entscheidend für diese Erfolge? Was braucht ein Spieler, um sich stetig weiterzuentwickeln?

Wolfgang Thiem:

"Dennis Novak hat sich spielerisch gar nicht so sehr verbessert, da er schon vor zwei Jahren sehr sehr weit war. Aber er ist den schwierigen Weg gegangen.

Er hat immer die Challenger in Europa gespielt, die stärker besetzt waren. Er hat schon einige Top 100 Spieler geschlagen. Spielerisch war immer klar, dass er das Zeug dazu hat.
Er ist mental gereift. Dadurch, dass er in Julian Knowles einen eigenen Tourcoach hat weiß er jetzt, dass er auf eigenen Beinen steht und sein eigenes Team um sich hat.

An der Base kümmere ich mich um die technischen Aspekte und ich glaube, dass es ihm die mentale Stärke gegeben hat, dass er um diesen Rückhalt weiß und zusätzlich auf Tour sein eigenes Team um sich hat".

Das Umfeld macht eine Menge aus. Der Charakter und die persönlichen Umstände kommen stets mit auf den Platz. Es ist wichtig zu wissen, dass man auch in diesem Bereich Veränderungen und dadurch Verbesserungen für sich vornehmen kann.

Lass uns schauen, was du für dein Tennis mitnehmen kannst:

  • Prüfe dein Umfeld. Wer sagt dir etwas zu deinem Spiel? Kannst du eventuell noch weitere Meinungen einholen?
  • Besitzt du einen echten Rückhalt? Gibt es eine Person, die mit dir an deiner Technik oder deinem Kopf arbeitet? Dies muss nicht zwangsweise ein Vereinstrainer sein. Du kannst dir auch von sehr guten Spielern aus deinem Verein Rat einholen

Apropos Mentalität und Charakter.

Wie wichtig ist der Charakter eines Spielers? Und welche Eigenschaften sollte dieser kultivieren?

Wolfgang Thiem:

"Ich glaube grundsätzlich, dass man als Tennisspieler geboren sein sollte. Man kann sich natürlich gewisse Fähigkeiten aneignen. Doch wenn man nicht die Grundfähigkeiten in einem sehr ausgeprägten Maße in den Genen mitbekommen hat, dann wird es schwierig.
Ein Tennisspiel ist geprägt von so viel Auf und Ab. Beispielsweise das Match vom Dominic gegen Bolt.

Er führt fast 2:0 Sätze, dann passieren ein paar blöde Fehler und dann liegt man 1:2 Sätze hinten. Eine Partie kann so schnell kippen und man wird mit so viel Erfolg und Misserfolg konfrontiert.

Es ist eine extrem hohe Frustrationstoleranz gefragt und ich glaube man muss sowohl körperlich, als auch mental, für den Sport geboren sein.

Man kann und muss natürlich diese mentalen Fähigkeiten verbessern. Je nachdem, welche Problembereiche der Spieler hat. Sollte man einen Mentaltrainer zu Rate ziehen, so sollte dieser immer sehr tennisaffin sein.

Aus meiner Sicht ist ein guter Tennistrainer auch ein guter Mentaltrainer. Ich halte wenig von Mentaltrainern, die am Wochenende eine Ausbildung gemacht haben und sich dann Mentaltrainer nennen.

Man muss verstehen, was in einem Tennisspieler vorgeht und wie dieser tickt."

Wir alle kennen diese ärgerliche Vorhand bei 2:1 und Breakball, die zwei Zentimeter neben der Seitenlinie landet. Dann steigt der Puls und der Kopf fährt runter. Man weiß, dass man eine dicke Chance hat liegen lassen.

thiem wolfgang

Vor allem gegen stärkere Gegner steigt dann der Frust. Man bekommt Panik, dass dies die letzte Chance war. Im Kopf durchfliegt man die ganze Arbeit, die physische und mentale Energie, die man bis zu diesem Breakball investieren musste.

Dann führt allein schon der Gedanke daran diese ganze Energie nochmals aufbringen zu müssen zur Kapitulation im Kopf.

Der Spieler, der diese Situationen meistert, stemmt Pokale in die Höhe.

Welche mentalen Fähigkeiten lassen deine Hände vielleicht schon bald zu einem Pokal greifen?

  • Lerne, dir selbst Fehler ernsthaft und aufrichtig zu verzeihen. Sei fair zu dir
  • Im Match befindest du dich in einem nicht endenden Dialog mit dir selbst. Lerne diesen Dialog vor allem in deinen schwachen Phasen motivierend und aufbauend zu führen. Du hast im Match nur einen Freund und das bist du

Neben der Mentalität ist Konzentration ein entscheidender Punkt für mehr Erfolg zwischen Netzkante und Grundlinie.

Wir leben in einem digitalen Zeitalter. Der amerikanische Evolutionspsychologe Geoffrey Miller sagte in einem Podcast, dass die Welt vor 200 Jahren in einem Chaos versunken wäre, wenn die Menschen Social Media gehabt hätte.

Wolfang Thiem über den Einfluss von Social Media auf die Konzentrationsfähigkeit

YouTube Videos werden bewusst immer kürzer gehalten. Die Timeline bei Facebook besitzt kein Ende.

Ist das Zufall? Selbstverständlich nicht.

Junge Menschen werden durch Social Media trainiert ihre Aufmerksamkeitsspanne möglichst kurz zu halten. Was nicht innerhalb weniger Sekunden fesselt, wird weggescrollt. Ich habe dir hier einen ausführlichen wissenschaftlichen Beitrag zur Konzentrationsfähigkeit herausgesucht.

Wolfgang Thiem zu dieser wichtigen Thematik:

"Durch Facebook, Instagram und Snapchat werden die jungen Leute ständig mit neuen Einflüssen konfrontiert. Im Match muss man sich aber über einen längeren Zeitraum auf eine Sache konzentrieren und damit haben die jungen Leute Probleme.

Dies ist eine Riesenaufgabe für uns Trainer und Erziehungsberechtigte. Am Platz musst du drei, vier Stunden konzentriert sein und deine Leistung bringen. Durch die ständig wechselnden Eindrücke durch die sozialen Medien sind die jungen Leute kaum noch in der Lage sich auf eine Sache konzentrieren zu können.

Darin sehe ich in Zukunft die größte Herausforderung für Spieler: Sich über einen längeren Zeitraum voll konzentrieren zu können.

Beispielsweise ein Buch lesen oder sich bei YouTube mal ein ganzes Match anschauen und nicht nur die Highlights. Das würde ich als sehr sehr wichtig erachten".

Der Mensch ist für zu viel Social Media nicht gemacht. Es liegt einfach nicht in der Natur des Menschen auf einen Bildschirm zu starren und süchtig nach Benachrichtigungen und Neuigkeiten zu werden.

Wenn du daraus eine Sache für dein Tennis ziehen kannst: Lege dein Smartphone bewusst dreimal am Tag beiseite. Du trainierst allein dadurch ein Stück weit deine Konzentrationsfähigkeit.

Was ich praktiziere: Physische Bücher kaufen und nicht zu viel am Smartphone lesen.

Aufgrund von fehlender Konzentrationsfähigkeit katapultiert man sich in Matchsituationen, aus denen man keinen Ausweg mehr findet. Es gibt verdammt ärgerliche Niederlagen gegen schwächere Gegner. Das sind die Matches, die du im Grunde gewinnen musst.

Aber manchmal reicht es eben nicht.

Wie geht Wolfgang Thiem mit einer Niederlage seines Schützlings um? Wie verhält er sich?

"Ich lasse immer etwas Zeit vergehen. Es macht keinen Sinn eine Analyse unmittelbar nach dem Match zu besprechen. Es sind noch zu viele Emotionen da.

Man kann die Niederlage nach der Dusche, Massage oder nach dem Cool Down angehen. Ich persönlich halte es so, dass ich am Abend auf dem Hotelzimmer oder beim gemeinsamen Abendessen auf den Spieler zugehe.

So lässt man die emotionale Komponente raus. Das Match kann sachlich und nüchtern analysiert werden.

Das Schöne beim Tennis ist, dass man meist die Möglichkeit hat es direkt in der folgenden Woche besser zu machen und aus seinen Fehlern zu lernen. Ein 100 Meter Läufer bei Olympia hat diese Möglichkeit nicht. Dieser müsste sich wieder vier Jahre gedulden und lange auf seine nächste Chance warten."

Hakst du deine Niederlagen immer schnell ab? Zerreißt du dich unter der Dusche selbst und nimmst nur schlechtes mit aus deinen Niederlagen?

Dann hat Wolfgang dir mit seiner Ansicht hoffentlich eine komplett neue Perspektive auf deine nicht so fantastischen Matches gegeben. Lass ein frustrierendes Match erstmal sacken. Deine Emotionen sind nur in diesem Moment, direkt nach der Niederlage, wirklich 'echt'.

Viel wichtiger ist, was du mit einem klaren Kopf aus deinen Niederlagen lernen und direkt beim nächsten Training oder Match besser machen kannst.

Es ist einiges an Informationen für dein Tennis zusammen gekommen.

Ich möchte mich an dieser Stelle nochmal bei Wolfgang für seinen Einsatz bedanken. Dieser hat mir gezeigt, wie die Einstellung eines Profis ist, der Champions entwickelt hat. Ich bin kein Journalist, kein Autor einer großen Zeitschrift und erst recht kein bekannter Name.

Wolfgang hat sofort auf meine Anfrage geantwortet und außergewöhnlich höflich und vertrauensvoll meine Fragen und Rückfragen beantwortet.

Er hätte dies nicht tun müssen.

Was kannst du daraus für dein Tennis mitnehmen?

Entscheidend ist, wie du die kleinen, unauffälligen und dir nicht so wichtigen Dinge angehst und behandelst.

Denn darin liegt das Geheimnis deines Erfolgs.

Marco Kühn
Marco Kühn
Marco ist an der Grundlinie groß geworden und ehemaliger Jugendranglistenspieler. Heute hilft er mit seinem Blog Clubspielern besser Tennis zu spielen. Er schrieb bereits für tennisnet.com, tennisMAGAZIN, Tennis-Point und den Focus.

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3 Kommentare

Hans-Jörg Zeiner
Hans-Jörg Zeiner
Die Beiträge von Marco lese ich mit großem Interesse und ich habe schon einiges mitgenommen.
Marco Kühn
Marco Kühn
Hey Hans-Jörg,

danke dir für dein Feedback!

Marco
Manfred
Manfred
Super

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